Idyll von der
Grossmächte Gnaden Sonderheft aus Wien zum österreichischen Staatsvertrag Österreich hat im Mai den 50. Jahrestag des Staatsvertrags gefeiert, mit dem es seine Souveränität zurückerhielt. Eine Sondernummer der «Europäischen Rundschau» hat neben staatstragenden Worten auch die Brüche des Landes zusammengetragen. böl. Hannah und ihr Vater sind gerettet. Den beiden Juden ist die Flucht aus dem Tomanien des Diktators Hynkel in das kleine Alpenland Osterlitsch gelungen. «Oh, du schönes Osterlitsch», seufzen sie erleichtert vor der idyllischen Kulisse der Alpen. Doch die Idylle trügt. Hynkels Truppen stehen schon zum Einmarsch bereit. Es gibt kein schöneres Bild für das österreichische Nachkriegsverständnis dessen, was 1938 mit dem eigenen Staat geschehen ist, als diese Szene aus «Der grosse Diktator», Charlie Chaplins Persiflage auf den Nationalsozialismus von 1940. «Immerwährende Neutralität» Die staatsrechtliche Grundlage dieses Nachkriegs-Idylls wurde im Staatsvertrag der vier Besatzungsmächte mit Österreich vom 15. Mai 1955 geschaffen. Das Land bekam seine Souveränität zurück und verpflichtete sich auf «immerwährende Neutralität». Die in Wien erscheinende Vierteljahreszeitschrift «Europäische Rundschau» hat nun ein Sonderheft mit dem Titel «Österreich und die Welt - 50 Jahre Staatsvertrag» herausgegeben. Es sammelt Stimmen in- und ausländischer Politiker, Publizisten und Wissenschafter zu Österreichs Nachkriegsgeschichte. Es sind vor allem staatstragende Worte, die der Herausgeber Paul Lendvai zusammengetragen hat, mit Würdigungen der Aussenminister der ehemaligen Besatzungsmächte und der Spitze der österreichischen Republik. Doch in dem Band scheinen auch die Brüche durch, die das Selbstverständnis Österreichs prägen. Denn so sehr das Bild vom kleinen Opfer Osterlitsch nach dem Krieg gepflegt wurde, so sehr stösst es spätestens seit den achtziger Jahren in Teilen der Öffentlichkeit auf erbitterten Widerstand. Für seine Kritiker ist das idyllische Alpenland auch ein Land, das den Anschluss an Nazideutschland mit grosser Mehrheit unterstützt hat und willentlich an dessen Greueln beteiligt war. Flucht aus der sowjetischen Mausefalle Auch wenn heute kaum noch jemand die Mitschuld von Österreichern an den Naziverbrechen leugnet, bleibt die österreichische Öffentlichkeit in ihrer Sicht auf die NS-Zeit und die Gründungsjahre der Republik gespalten. Ein Schlaglicht darauf wirft die Rolle des ersten Nachkriegs-Bundeskanzlers, Karl Renner. Dieser habe sich zuerst der NS-Propaganda angedient, dann sich bei Stalin angebiedert und schliesslich an der Westorientierung des Landes gearbeitet - Renner repräsentiere damit «wie kein anderer Österreichs Überleben kraft intellektueller Behendigkeit», schreibt der Innsbrucker Politologe Anton Pelinka. Sein Wiener Kollege Norbert Leser hingegen bezeichnet Renner als «weitblickenden Staatsmann», der nicht die ihm von den Sowjets zugedachte Rolle des willfährigen Handlangers gespielt und so die Bedenken der westlichen Alliierten zerstreut und Österreichs Autorität nach innen und aussen ausser Streit gestellt habe. Der Staatsvertrag war der Taufschein der modernen österreichischen Nation. Nach dem Krieg begann man bewusst eine von Deutschland deutlich abgegrenzte Identität zu entwickeln. Und der Streit darüber, ob dies die in den Worten Lesers «selbstverständliche Konsequenz eines Willens zur Selbständigkeit und Eigenstaatlichkeit, der während des Krieges angesichts der Unterdrückung Österreichs durch Preussen-Deutschland entstanden war», oder ein Akt «augenzwinkernden Opportunismus» war, wie es Pelinka formuliert, ist ein ewiger Angelpunkt der für das kleine Land typischen Selbstbeschau. Doch nicht nur in seiner Selbstwahrnehmung war der schliesslich neutrale österreichische Kleinstaat ein idyllisches Traumbild. Der ungarische Politologe Laszlo Lengyel unterstreicht die Vorbildwirkung des Staatsvertrags für den Ungarnaufstand 1956. Das ungarische Nationalkomitee erklärte damals seine «Neutralität nach österreichischem Muster». Die Antwort der Sowjetunion war jedoch bekanntlich eine andere als in Österreich. Der Aufstand wurde brutal niedergeschlagen. Für Lengyel prägte dieses Trauma auch die ungarische Sicht auf Österreich: «Dies wertete den österreichischen Erfolg auf - dem Mäuschen gelang die Flucht aus der Mausefalle - und liess zur gleichen Zeit die Erfolglosigkeit Ungarns tragisch erscheinen.» Die Nachkriegszeit ist vorbei Die Kleinheit, die das Kernland der ehemaligen Donaumonarchie nach dem Ersten Weltkrieg nicht akzeptieren konnte, wurde nach den Erfahrungen im grossdeutschen Dritten Reich zu einem Merkmal des österreichischen Nationalgefühls. Und so überrascht es nicht, dass die Schweiz, der es gelungen war, den Zweiten Weltkrieg als neutraler Kleinstaat zu überleben, zunächst zum politischen Modell für Österreich wurde. Hugo Bütler zeichnet in seinem Beitrag nach, wie die österreichische Neutralitätspolitik jedoch sehr bald eigene Wege ging, indem sie Integration und Mitgestaltung in internationalen Organisationen suchte. Spätestens mit dem EU-Beitritt ist Österreichs Nachkriegsgeschichte abgeschlossen. Und mit der EU-Osterweiterung ist das kleine Land zu einem Teil des Staatennetzes von Mitteleuropa geworden. Auch wenn es sich - wie einige Autoren betonen - noch ein wenig dagegen sträubt, das kleine Osterlitsch sucht eine neue Rolle. «Österreich und die Welt - 50 Jahre Staatsvertrag». Europäische Rundschau, Sondernummer. Wien 2005. 2. Juni 2005 Nr. 126 6 |